Eine Einbrecherschlacht.
Transkription: Michael Strasser
Vor dem Schwurgerichte unter Vorsitz des Landesgerichtsrates Dr. Kämpf hatte sich gestern der 22jährige Markthelfer Josef Kucera wegen versuchten Mordes und Übertretung des Waffenpatentes zu verantworten. Wie die vom Staatsanwalt Dr. Nordegg vertretene anklage ausführt kamen am Nachmittag des 16. Februar d. J. vier Burschen, von denn einer die Uniform eines Infanteristen trug, in das Gasthaus Kothbauer in der Ullmannstraße im 14. Bezirk. Bald darauf erschien eine militärische Patrouille, begleitet von zwei Wachleuten in Lokal, die auf einer Streifung nach dem gefährlichen Einbrecher und Deserteur Johann Breitwieser begriffen war. Die Korporale Resnizek und Kindler nahmen im Hausgang Aufstellung, die Korporale Deyböck und Kirchmayer bewachten den rückwärtigen Ausgang des Gastzimmers, der Kontrollinspekcor Emil Pavlik, der Oberwachmann Franz Kadane, die Zugsführer Josef Beron und Fanz Smertzka sowie der Korporal Leopold Blasel begaben sich in den Schankraum und traten sofort an den Tisch, wo die vier Burschen saßen. Während der Aufnahme des Nationales krachten plötzlich mehrere Schüsse. Es entspann sich nun ein erbittertes Handgemenge, währenddessen es einem Burschen gelang, auf die Gasse zu flüchten. Dort gab Zugsführer Beran einen Schuß auf ihn ab und der Flüchtige, es war der von seinem Truppenkörper entwichene Alois Graczoll, brach tot zusammen.
Kucera wehrte sich verzweifelt gegen die Verhaftung und man sah sofort, daß er zur Abwehr einen Revolver aus der Tasche gezogen hatte. Dem Oberwachmann Kadane gelang es, die rechte Hand des Kucera festzuhalten, in der er den großen Armeerevolver hielt, trotzdem war es dem Angeklagten möglich, noch mehrere Schüsse abzugeben. Eine Kugel ging durch den Mantel und die Bluse des Kadane, ohne ihn zu verletzen. Nun gelang es dem Wachmann dem Kucera einen Stoß zu versetzen, daß er zu Boden fiel. In diesem Augenblick fiel wieder ein Schuß und die Kugel ging in nächster Nähe an dem Kopfe des Wachmannes vorüber in die Wand. Jetzt stürzte sich auch Korporal Resnizek auf Kucera und wurde bei dem Ringen durch zwei Schüsse an der rechten Hand verletzt. Inspektor Pavlik, der gleichfalls eingegriffen hatte, erhielt in dem Kampfe einen Schuß, der durch die Achselhöhle ging, den Brustraum durchbohrte und die Lunge verletzte. Wie festgestellt wurde, hatten auch der mit Kucera im Gasthause sich befindliche Markthelfer Josef Weber sowie Graczoll Revolver bei sich getragen,allein niemand hat gesehen, daß Weber geschossen hätte und der Zweitgenannte war sofort nach Eintritt der Patrouille geflüchtet. Auch war der Revolver, den Graczoll getragen, nur mit blinden Patronen geladen. Der vierte der Burschen, der Militärflüchtling Leopold Schachinger, hatte keine Waffe getragen.
Josef Kucera hat bereits im 18. Lebensjahr die erste Strafe wegen Diebstahls erlitten. Schon damals war er als ein gewalttätiger Bursche bekannt, verübte Einbruchsdiebstähle und wurde auch eine Zeitlang in der Zwangsarbeitsanstalt in Korneuburg gehalten. Meist trieb er sich mit Deserteuren umher und als am 16. Jänner d. J. sein Bruder Leopold Kucera bei der Verhaftung auf einen Wachmann einen Schuß abgab, war nicht nur der Beschuldigte, sondern auch der oft genannte und berüchtigte Breitwieser in seiner Gesellschaft. Kucera hatte, als er im Gasthause Kothbauer festgenommen wurde, Einbruchswerkzeuge sowie einen zehnschüssigen Offiziersrevolver bei sich, aus dem er zweifellos die Schüssen gegen die Wachmannschaft abgegeben hat. Im Bewußtsein, daß er als gewalttätiger Dieb bekannt ist, daß er der Bruder der berüchtigten Verbrecher Karl und Leopold Kucera sei, daß er mit dem lange gesuchten Johann Breitwieser verkehrte und sich in Gesellschaft zweier Militärflüchtlinge befinde, mußte er eine Haftnahme als sehr gefährlich betrachten und bestrebt sein, seine Verhaftung zu verhindern. Als er dann seinen Freund Graczoll zum Widerstande entschlossen sah, mögen die letzten Hemmungen gefallen sein und er machte, dem Beispiel Breitwiesers und seines Bruders Leopold folgend, von der Waffe Gebrauch, um durch Ermordung der Wache seine Freiheit zu erzwingen. Nur dem glücklichen, von ihm nicht gewollten Umstande, daß die abgegebenen Schüsse teils ihr Ziel verfehlten, teils nicht tödlich wirkten, hat der Angeklagte es zu verdanken, daß er nicht schwere Blutschuld auf sich geladen.
Josef Kucera leugnete in der Untersuchung jedes strafbare Verschulden. Den Armeerevolver erhielt er zwei Tage vorher von Graczoll zur Aufbewahrung. Als die Wache erschien, wollte er den Revolver unter den Tusch werfen, doch war dies bemerkt worden, worauf er die Waffe rasch in die Winterrocktasche steckte und aus dem Gastzimmer zu entkommen suchte. An der Türe stürzte er bewußtlos zusammen und kam erst im Spital, wohin man ihn gebracht hatte, wieder zu sich. Daß er geschossen habe, daran erinnert er sich nicht. Die Sperrhaken müsse ihm einer seiner Kameraden in die Tasche gesteckt haben.
Die Anklage schließt: Diese Verantwortung trägt den Stempel der Unwahrheit und zeigt nur das Bestreben, der verdienten Strafe für den Versuch zu entgehen, als Feind jeder Zucht und Ordnung in Erfüllung ihrer schweren Pflicht begriffene Wachleute zu ermorden.
Die Verhandlung wurde vom Vorsitzenden Landesgerichsrat Dr. Kämpf kurz nach 10 eröffnet; als Verteidiger des Angeklagten fungierte Dr. Ferdinand Melbinger.
Der Angeklagte, ein großer, schmächtiger Bursche, der eigentlich recht harmlos und dabei intelligent aussieht, erklärte sich gestern nichtschuldig. - Vors.: Was haben Sie denn eigentlich gearbeitet? - Ang.: Ich war Markthelfer und habe dreimal in der Woche 40 Kronen verdient. - Vors.: Aber in der letzten Zeit hatten Sie ein anderes Geschäft, und zwar in der Nacht. Ein Geschäft, zu dem man solche Werkzeuge braucht. Der Vorsitzende zeigt dem Angeklagten mehrere Einbruchswerkzeuge, die dem Kucera bei der Verhaftung abgenommen wurden. - Vors.: Warum sind Sie denn das letzte Mal bestraft worden? - Ang.: Weil ich meine Geliebte gestochen habe. - Vors.: Sie haben fünf Brüder? - Ang.: Ja, drei sind im Felde. - Vors: Und die beiden anderen werden wegen schwerer Verbrechen verfolgt, der Karl wegen Mordes und der Leopold wegen Mordversuches. - Ang.: Von den zweien weiß ich jetzt nichts. - Vors.: Sie waren doch dabei, wie der Leopold auf einen Wachmann geschossen hat, auch der Breitwieser war damals in Ihrer Gesellschaft. - Ang.: Mit dem Breitwieser habe ich nicht weiter verkehrt, er ist damals zufällig zu uns gekommmen.
Der Angeklagte erzählt dann, daß er am 16. Februar morgens am Markte gearbeitet und dann den Graczoll getroffen habe, mit dem er einige Gast- und Kaffeehäuser besuchte. Sie trafen dann den Schachinger und den Weber und zechten mit ihnen weiter. Als sie in das Gasthaus Kothbauer kamen, war er, Angeklagter, bereits sehr stark betrunken, an die weiteren Vorfälle beim Erscheinen der Wache könne er sich nicht mehr erinnern. - Vors.: Woher hatten Sie den Revolver und die Einbruchswerkzeuge? - Ang.: Den Revolver hat mir der Graczoll zum Aufheben gegeben, die Sperrhaken muss mir im Gasthause wer zugesteckt haben, weil ich sie früher nicht gehabt habe. - Vors.: Haben Sie geschossen, als die Wache Sie visitiert hat? Ang.: Ich weiß von gar nichts. Ich bin erst im Spital wieder zu mir gekommen, weil ich bei der Rauferei auch angeschossen worden bin. Wie das alles war, kann ich nicht sagen. Ich kann mich an gar nichts erinnern.
Die vernommenen Zeugen gaben im wesentlichen an, daß sich der ganze Vorfall sehr rasch abgespielt habe, doch sei die Darstellung der Anklageschrift richtig, zweifellos habe Kucera einige Male geschossen, um sich die Wachorgane vom Leibe zu halten.
Die Geschworenen, Obmann Franz Watzl, bejahten nach kurzer Beratung die Schuldfragen auf versuchten Mord und Übertretung des Waffenpatents mit zwölf Stimmen. Auf Grund dieses Verdikts verurteilte der Gerichtshof Josef Kucera zu neun Jahren schweren Kerker.
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