Johann Breitwieser Breitwieser-Schani

Lebensgefährliche Nervosität.

Neue Freie Presse, 3. April 1918, Seite 6
Transkription: Michael Menedetter

Die Wiener Öffentlichkeit beschäftigt sich heute sehr lebhaft mit einem jener Revolverkämpfe, deren tägliches Vorkommen nicht danach angetan ist, die Annehmlichkeiten des gegenwärtigen Lebens im Hinterland um ein Bedeutendes zu erhöhen. Es ist diesmal kein Revolverkampf zwischen Polizisten und Verbrechern. Polizeileute waren allerdings beteiligt, waren sogar der angreifende Teil. Die Gegenpartei bestand aus harmlosen Kaffeehausbesuchern, denen, genau genommen, anfänglich wenigstens nichts anderes zur Last fiel, als daß einer von ihnen einem berüchtigten und lange gesuchten Uebeltäter ähnlich sehen soll. Im Laufe der Begebenheiten haben sie sich allerdings noch einiges zuschulden kommen lassen. Der Aufforderung „Hände hoch!“ sind alle drei nicht nachgekommen. Dann steckte einer von ihnen die Hand in die Hosentasche und ein anderer nahm sich sogar heraus, als ihn ein Schuß traf, unter den Tisch zu sinken. Die Polizeiorgane, die ihre Revolver abfeuerten, erklärten ihre Handlungsweise damit, sie hätten angenommen, der eine ihrer Gegner wolle unter dem Tisch hervorschießen, der andere suche nach einer Waffe in seiner Hosentasche und der dritte wolle seinen Revolver unter dem Tisch verbergen. Das sind drei Annahmen, die sich durchwegs als irrig erwiesen haben. Das blutige Fazit des Mißverständnisses besteht aber aus zwei Schwerverletzten und einem Leichtverletzten. Der Mann, der dem Einbrecher Breitwieser ähnlich sieht, bezahlt diese unangenehme Eigenschaft mit einer Brustwunde und seine Gesellschafter sind gleichfalls darüber gründlich belehrt, wie gefährlich heutzutage der Umgang mit Leuten ist, die Verbrechern ähnlich sehen. Der Wiener Lokalbericht der letzten Wochen hat fast alltäglich gewichtige Gründe dafür aufgezählt, daß behördliche Organe, die mit der Aufspürung und Dingfestmachung von Verbrechern betraut sind, die Herrschaft über ihre Nerven ganz oder wenigstens teilweise verlieren könnten. Gesunde und widerstandsfähige Nerven gehören aber einmal sozusagen zum Existenzminimum eines brauchbaren Polizisten. So allgemein die Auffassung im Publikum war, daß die Polizeileute gegenüber den bis an die Zähne bewaffneten und gewappneten Verbrechern nicht vogelfrei erklärt werden dürfen, so laut der berechtigte Wunsch nach Verstärkung und entsprechender Ausrüstung der Patrouillen sich geltend machte, die allgemeine Rechtssicherheit läßt auch dann zu wünschen übrig, wenn zwar den Verbrechern der neue Waffenerlaß die Anschaffung von Revolvern erschwert, dafür aber ein Kaffeehaus in der Praterstraße am einem Frühlingsabend plötzlich zum Schlachtfeld wird, auf dem Polizisten eine erfolgreiche Offensive unternehmen. Nun ist es gewiß richtig, daß die traurigen Erfahrungen, die man in Wien im vierten Kriegsjahr mit den Verbrechern gemacht hat, es tatsächlich nicht unmöglich erscheinen lassen, daß jemand unter dem Tisch hervor auf Wachleute feuert oder daß er in der Hosentasche einen schußbereiten Revolver versteckt hält. Vorderhand aber weiß man nur, was die angreifenden Polizisten sich gedacht haben. Dagegen liegt darüber noch kein Bericht vor, wie die angegriffenen Kaffeehausgäste ihr Verhalten motivieren. Vielleicht wird einer von ihnen sagen: Wenn Leute in ein Lokal eindringen und "Hände hoch!" rufen, so ist es heutzutage noch gar nicht ausgemacht, daß es wirklich Amtsorgane sind, die eine solche kategorische Aufforderung ergehen lassen. Und dann hat die Militarisierung im Hinterland noch immer nicht so große Fortschritte gemacht, daß ein jeder sich der unter Umständen tödlichen Folgen der Mißachtung eines solchen Gebotes bewußt sein muß. Ein Kaffeehaus in der Praterstraße ist schließlich nicht am Rande der Schmelz gelegen und es wäre vielleicht angängig gewesen, sich der vermeintlichen Uebeltäter in diesem Lokale zu versichern, ohne gleich zum radikalen Mittel einer Revolverattacke zu schreiten. Es wäre am Ende sogar möglich gewesen, der verhängnisvollen Aehnlichkeit zwischen dem Einbrecher Breitwieser und dem reichsdeutschen Soldaten in anderer Weise nachzuspüren. Für die Nervosität, welche die Polizeiorgane im Lokal selbst an den Tag legten, mag es immerhin entschuldigende Momente geben; der Feldzugsplan in seiner Gänze aber deutet wahrlich auf keinen polizeilichen Hindenburg.

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